Zwei Rocksteady-Titel zum Entspannen: Everybody bawling und You don’t need me [mit Hintergrund-Wissen]

Ein Youtube-Video der Urheber von By The Rivers of Babylon, jener genauso ein klassischer Rocksteady-Titel (1970): The Melodians spielen auf dem Rocksteady Reunion Concert ’92 die Rocksteady-Stücke Everybody Bawling und You don’t need me:

Leider können die meisten Menschen nur wenig bis rein gar nichts mit Rocksteady anfangen. Rocksteady (Rock Steady: ?) klingt doch gut für eine Rockkneipe, oder nicht?

Tatsächlich ist Rocksteady eine klar definierter Musikstil. Er begann den Ska in Jamaica im Sommer 1966 abzulösen. Es gibt einiges an Gerüchten über die Entstehung von Rocksteady. Einmal war der Sommer  in Jamaica 1966 zu heiß, um Ska zu spielen. Man drosselte deshalb das Tempo. Dann war noch die leicht bösartige Geschichte um Hopeton Lewis:

Hopeton Lewis kam mit einer Ska-Nummer an, ‘Take It Easy’. Er kriegte es auf dem Rhythmus nicht hin, also spielte er es langsamer.

Laut.de führt noch neben diesen Legenden die Geschichte an, nach der im Vergleich zum Ska langsamere Rocksteady-Rhythmus half, die erhitzten Gemüter zu kühlen. Für mich hat die Story der fortschreitenden Entwicklung der E-Gitare, hier des E-Basses, als Einflußfaktor mehr Glaubwürdigkeit. Wie dem auch sei, vielleicht spielen mehrere Komponenten eine Rolle, war man vielleicht des schnellen Ska-Rhythmus überdrüssig? Waren Ska-Orchester mit den Bläsern einfach zu teuer?

Vor genau 50 Jahren hatte der Rocksteady lokal in Jamaica seinen Höhepunkt. Nicht ganz: Shanty Town (007) von Desmond Dekker and The Aces  kam in Großbritannien gut an: #14, UK Singles Chart 1967. Das tragische Schicksal des Rocksteadys war es dann, auf dem Gipfelpunkt des kommerziellen Erfolgs in Reggae überzugehen: Israelites, auch von Desmond Dekker and The Aces, war ein Welterfolg. Die erste eingespielte Fassung war Rocksteady, die in England veröffentlichte Version des Pyramid-Labels (neu abgemischt) hingegen schon Reggae.

Hier die Rocksteady-Version von Israelites (genauer: “Poor Me Israelites”, Beverley’s Records):

Reggae-Version (ohne Poor Me, Pyramid):

Komplexe Rhythmus-Strukturen machen allein noch keinen Reggae. Manch Reggae-Stück ist gar keines, sondern Rocksteady. Wer sich einhören will, die erste Isrealites-Version hat Grundschläge (off beats!) auf der 2 und 4 wie der Ska (alles 4/4-Takt), nur langsamer. Wenn dann das “i-Tscheck” auf der 3 liegt, wir von der 2-4-Betonung auf die 2-3 Betonung wechseln, wie im zweiten Israelites-Beispiel herauszuhören ist, sind wir beim Reggae. Es gibt fließende Übergänge, wo die Lage nicht so klar ist. Und manches moderne Reggae-Stück wird dann so weiter entwickelt, dass wir wieder beim Rocksteady angelangen, ohne dass dies den betroffenen Musikern unbedingt bewußt sein muß. Insoweit ist eine gewisse Verwirrung sogar verständlich. Aber: Jeder gute Musiklehrer wird seinen Schülern (sicherlich) den Unterschied gut erklären können.

Hier ein schönes Zitat aus dem Billboard:

“Sometimes what we call reggae today is actually rocksteady,” says contemporary Jamaican singer/songwriter Tarrus Riley, whose father, the late Jimmy Riley, was a member of The Uniques and The Sensations prior to embarking on a successful solo career.

Unterscheidung Ska – Rocksteady: Es gilt hier, dass manche Rocksteady-Stücke durchaus wieder etwas schneller geworden sind, der Ska hingegen kann auch etwas langsamer sein als gewöhnlich, so dass der “Charakter” dann entscheidet: Gelegentlich ist der Übergang so fließend, dass ein Stück sowohl dem Ska als auch dem Rocksteady zuzuordnen ist – vor allem dann, wenn die (variableren) Basslinien des Rocksteady, die zuweilen “chaotisch” wirkenden Rocksteady-Schläge, mit dem präziseren, klaren Ska-Rhythmus und typischen Bläsersätzen des Ska vermischt werden. Was mir aufgefallen ist, viele Ska-Bands, auch Ska-Punk-Bands wie die sich als Mod-Ska-Punk-Band bezeichnenden T-Killas aus Aschaffenburg, haben Rocksteady-Stücke im Repertoire, weil nur Ska und Punk allein auf Dauer doch etwas monoton erscheinen. Und Cover-Versionen zum Beispiel von Pressure Drop im Rocksteady-Beat zu hören, kann durchaus ein großer Genuß sein.

Schulwissen:
Dem Rocksteady wird angedichtet, er bestünde nur aus Liebesliedern. Dem ist nicht so. Das zuvor zitierte Shanty Town enthält zum Beispiel  in seinem politischen Text die Zeile “Them a rude boy a bomb up the town”. Auch wenn es Patois ist, wird man deren Sinngehalt gut erahnen können. Rocksteady war zeitlich angesiedelt nach der Unabhängigkeit Jamaicas 1962. Es war eine Zeit der Zuversicht, des Aufbruchs, Kingston (Hauptstadt Jamaicas) war eine Großbaustelle. Aber der Kapitalismus zeigte deutlich seine häßliche Seite Fratze (Shanty Town (!)), die Armut verschwand nämlich nicht, so dass die Enttäuschung zunahm und in Wut überging, was dann 1972 zu einer halb-sozialistischen Regierung in Jamaica führte.

Die Rude Boys waren junge Männer, die aus dem Umland nach Kingston zogen. Von ihnen fanden viele keine oder zeitweise schlecht bezahlte Jobs. Wer nichts hat, will trotzdem überleben. So einfach läßt sich Armutskriminalität erklären. Man sollte hier nicht der Law-and-Order-Kriminalisierungen rechter und rechtsextremer Parteien folgen: Statt die Armen zu bekämpfen, sollte man vielmehr die Armut bekämpfen, wie sich zum Beispiel Michael Manley anschickte, als er 1972 zum Prime­minister ernannt wurde und sich seine PNP (der Name soll nicht irritieren, die PNP war damals sehr sozialistisch) bei den Wahlen zum jamaicanischen Parlament durchsetzte.

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